Strategien zur Beurteilung der Lawinengefahr
Letzten Herbst haben wir uns für das Sport Aktiv Magazin einige Gedanken zum Thema Strategien zur Beurteilung der Lawinengefahr gemacht. Kurz vor den nächsten Schneefällen an der Alpensüdseite und in Anbetracht des bestehenden “Altschneeproblems” möchten wir die Basics dazu noch einmal in Erinnerung rufen!
Kaum ein anderes Thema ist unter Skitourengehern und Freeridern ähnlich präsent wie das Thema Lawinen – Welche Tour, welche Abfahrt ist möglich und welche nicht? Wo ist es harmlos und wo wird es gefährlich? Und – von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet – wieviel Risiko gehe ich ein um am Ende das Tages mit dem Erlebten zufrieden zu sein?
Das Thema Lawine hält seine andauernde Aktualität durch die Tatsache, dass sich die Lawinengefahr ständig verändert und dadurch schwierig einzuschätzen ist.
Wie kann es schließlich sein, dass ein und derselbe Hang einmal völlig harmlos ist und ein anderes Mal brandgefährlich?
Den Unterschied zu erkennen ist an vielen Tagen relativ einfach: An extrem gefährlichen Tagen und umgekehrt, bei angenehm entspannten Verhältnissen ist die Lage offensichtlich und leicht zu interpretieren. Problematisch wird es, wenn die Fakten nicht offensichtlich sind und tief im Verborgenen der Schneedecke liegen.
Welche Möglichkeiten hat man aber tatsächlich, um sich der Lawinengefahr verantwortungsbewusst zu stellen? Kann man die vielen komplexen Prozesse, die sich in der Schneedecke abspielen tatsächlich auf einfache Entscheidungsstrategien herunterbrechen?
Tourengehen mit Strategie – wie funktioniert das?
Voraussetzung jeder Tour sollte eine sorgfältige Planung des Tourentages sein. Prinzipiell kann man sagen, dass bei den meisten Lawinenunfällen der grundlegende Fehler bereits im Rahmen der Tourenplanung passiert ist, in dem die Entscheidung für die falsche Tour unter den vorherrschenden Verhältnissen getroffen wurde.
Die wichtigsten Kriterien für die Tourenwahl bilden die Hangsteilheit und die Exposition der Tour, sowie der aktuelle Lawinenlagebericht. Nicht zu vergessen: Das entsprechende Eigenkönnen in Punkto Kondition und Skitechnik ist nicht nur notwendig um die Tour genießen zu können, sondern ist auch ein wichtiger sicherheitsrelevanter Faktor!
Stop or Go
Plant man nun z.B. mit dem Planungstool „Stop or Go“ des Alpenvereins so kommt folgende Faustregel zum Einsatz:
- Bei Lawinenwarnstufe 2 sollte die Steilheit unter 40° sein ( im Spurbereich)
- Bei Lawinenwarnstufe 3 bleibt man unter 35° (betrifft den gesamten Hang)
- Bei Lawinenwarnstufe 4 bleibt man unter 30°
- Bei Lawinenwarnstufe 5 bleibt man zu Hause
Diese Faustregel ist auch als „Elementare Reduktionsmethode“ bekannt und wurde vom bekannten Schweizer Lawinenfachmann Werner Munter entwickelt. Diese Faustregel alleine gibt einen groben Richtwert an und wird unter Experten gerne diskutiert. Warum?
Vor allem für die Warnstufe 3 bleibt einiges an Unsicherheit. Hänge mit 35° werden nicht nur bereits als sehr steil empfunden, ein Blick auf die Lawinenereignisse der letzten Jahre zeigt, dass sich zahlreiche Skitourenunfälle bei Lawinenwarnstufe 3 in Hängen mit 30 bis 35° Steilheit ereigneten. Gleichzeitig muss man aber auch eingestehen, dass das hier geforderte Limit von 35° Steilheit bezogen auf den gesamten Hang auch häufig überschritten wird und trotzdem nicht permanent Unfälle daraus resultieren.
Wie kommt das?
Um die Problematik zu verstehen ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen welche Zutaten für das Auslösen eines Schneebretts (der typischen Skifahrerlawine) notwendig sind:
- Die Steilheit: Ab ca. 30 Grad Steilheit ist es möglich eine Lawine auszulösen, bei ganz ungünstigem Schneedeckenaufbau eventuell auch in etwas flacherem Gelände.
- Gleitschicht /Schwachschicht: Irgendwo in der Schneedecke muss eine großflächige Schicht vorhanden sein, die so beschaffen ist, dass darauf etwas abgleiten kann.
- Eine großflächig gebundene Schneeschicht: Eine feste Schneeschicht, wie z.B. frischer Triebschnee, die brechen und dann als ganze Schneetafel abgkleiten kann.
Anhand der Unfallzahlen kann man nun erkennen, dass es Winter mit besonders vielen Unfällen gibt und wiederum Winter in denen die Lawinengefahr offensichtlich geringer, bzw. leichter einzuschätzen ist.
Dies liegt daran, dass der Schneedeckenaufbau in manchen Wintern grundsätzlich ungünstig ist, weil es auf Grund der Temperatur- und Niederschlagsentwicklung besonders hartnäckige und weitverbreitete Schwachschichten (=Gleitschichten) in der Schneedecke gibt.
Da diese Schichten von außen nicht erkennbar sind, ist es zur Beurteilung der Lawinengefahr oft notwendig sich mit der Schneedecke konkret zu beschäftigen. Das nötige Know How dazu eignet man sich am besten im Rahmen eines Kurses an. Auch die Schneedeckenbeurteilung im Lawinenlagebericht ist hier sehr aufschlussreich. Zusätzlich gibt der Lawinenlagebericht auch Auskunft über vorherrschende Gefahrenmuster, die konkret auf das Vorhandensein von ungünstigen Schwachschichten hinweisen.
Die elementare Reduktionsmethode liefert also auf Grund statistischer Berechnungen einen Richtwert, mit dessen Hilfe rund 75% der Lawinenunfälle vermieden werden sollten. Gerade in den Grenzbereichen der Lawinenwarnstufe 3 besteht allerdings eine gewisse Unschärfe.
Da das alleine noch nicht befriedigend ist, bessert die Strategie „Stop or Go“ während der Tour noch nach, in dem das Augenmerk auf frische Triebschneeansammlungen und andere Gefahrenzeichen gelegt wird. Dazu ist zumindest ein Basiswissen notwendig, welches am besten ebenfalls in einem Kurs erlernt wird.
W3
Die Strategie W3 der Naturfreunde verfolgt einen anderen Ansatz: Hier gilt für Einsteiger, die selbständig unterwegs sind, generell die Empfehlung sich im Gelände unter 30° Steilheit aufzuhalten. Dies bedeutet zwar eine große Einschränkung der Tourenauswahl, ist aber eine Empfehlung der man uneingeschränkt zustimmen kann.
Die Beurteilung der Sicherheit in steilerem Gelände sollte auf Grund der Kenntnis über den Schneedeckenaufbau und durch das Erkennen von Gefahrenzeichen ermöglicht werden. Das selbständige Begehen von Touren in über 30° steilem Gelände wird daher nur fortgeschrittenen Tourengehern empfohlen, die nicht nur über Erfahrung sondern auch zumindest über Grundkenntnisse der Schnee- und Lawinenkunde verfügen.
Zusammenfassend kann man mit gutem Gewissen folgende Empfehlungen geben:
Für die Tourenplanung:
- Der Lawinenlagebericht bildet die Grundlage für jede Tourenplanung. Nicht nur die Warnstufe ist ausschlaggebend, sondern auch die Beschreibung der Situation und vorherrschende Gefahrenmuster.
- Mit Hilfe einer Karte sollte die Hangsteilheit entlang der gewählten Route gemessen werden. Eventuelle „Schlüsselstellen“ lassen sich so bereits gut erkennen. Auch der zeitliche Ablauf für die Tour sollte anhand der Karte festgelegt werden, vor allem bei Frühjahrstouren, bei denen im Tagesverlauf starke Änderungen der Verhältnisse zu erwarten sind.
- Die Elementare Reduktionsmethode oder „Stop or Go“ und die von Munter formulierten „Limits“ liefern einen guten Anhaltswert für die Tourenplanung. Unterwegs auf Tour muss man sie aber vor allem in den Grenzbereichen (z.B. bei einer „angespannten“ 3.Lawinenwarnstufe) immer wieder hinterfragen und gegebenenfalls defensiv entscheiden.
- Wer wirklich sicher sein möchte sollte sich wie bei W3 formuliert in unter 30° steilem Gelände bewegen.
- Neben dem Lawinenlagebericht ist auch der Wetterbericht zu beachten. Bei schlechter Sicht kann man auch bei harmlosen Touren in steileres Gelände und damit in brenzlige Situationen kommen.
- Prinzipiell sollte es zumindest einen Plan B geben, also ein Ausweichziel, falls die Verhältnisse nicht den Erwartungen entsprechen oder die Tour zu stark frequentiert ist.
Auf Tour:
- Frische Triebschneeansammlungen sollten generell vermieden werden.
- Gefahrenzeichen wie Risse in der Schneedecke, Wummgeräusche oder frische Lawinenabgänge sind unbedingt zu beachten und bedeuten, dass man sich unverzüglich in unter 30° steiles Gelände begeben sollte.
- Große Gruppen bedeuten immer ein erhöhtes Risiko. Dies trifft auch zu wenn andere Gruppen zur gleichen Zeit in derselben Tour unterwegs sind.
- Ab einer Hangneigung von mehr als 30° sollten im Aufstieg Abstände von 10 bis 15 Metern zwischen den Skitourengehern eingehalten werden. Bei der Abfahrt empfiehlt es sich Hänge einzeln oder mit bis zu 30 Meter Abstand zu befahren.
- Besonders wichtig sind sichere Sammelpunkte z.B. auf Geländekuppen, außerhalb möglicher Lawinenbahnen.
- Mögliche Geländefallen sind sowohl im Aufstieg als auch bei der Abfahrt zu beachten: In Mulden können auch kleine Lawinen zu großen Verschüttungstiefen führen und bei Absturzgefahr kann auch ein kleiner Schneerutsch bereits fatale Folgen haben.
Fazit: Wer selbständig auf Tour unterwegs sein möchte, sollte sich informieren, um zusätzlich zu den Strategien auch die Schneedecke beurteilen zu können.
Wer keinen extra Kurs machen möchte hat auch die Möglichkeit einfach mit Guide unterwegs zu sein und sich im Rahmen einer Skitour oder eines Freeride Tages mit der Materie zu beschäftigen. Wir erklären Euch dabei gerne die Grundlagen unserer Entscheidungen und beantworten natürlich auch alle auftauchenden Fragen! mehr dazu hier….